Evil Does Not Exist

Ryusuke Hamaguchi, Japan, 2023o

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Takumi und seine achtjährige Tochter Hana leben im Einklang mit der Natur in eine ländlichen Gemeinde. Er hackt Holz, schöpft Quellwasser und verrichtet andere Hilfarbeiten; das Mädchen streift nach der Schule durch die Wälder und beobachtet Tiere. Als eine PR-Agentur aus Tokyo den Einheimischen ein Luxus-Campingprojekt mit gravierenden Umweltfolgen schmackhaft machen will, regt sich Widerstand. Doch auch die Vertreterin und der Vertreter der Agentur haben Zweifel am Projekt und an ihren Jobs. Während sie Takumi als Berater zu gewinnen versuchen, verschwindet Hanna im Wald.

Suchen Sie im Kino die radikale Entschleunigung, und stört es Sie nicht, wenn Sie am Ende mehr Fragen haben als am Anfang? Dann ist der neue Film von Ryusuke Hamaguchi (Drive My Car und Wheel of Fortune and Fantasy) das Richtige für Sie. In den ersten vier Minuten zeigt die himmelwärts gerichtete Kamera zu einem elegischen Orchesterstück mit leisen Dissonanzen nur winterliche Baumkronen in fahlem Licht, dann fünf Minuten einen Waldarbeiter beim Sägen und Spalten von Brennholz, weitere fünf Minuten beim Schöpfen von Quellwasser mit Kanistern. Aus dieser Einweisung in den ländlichen Lebensrhythmus entfaltet Hamaguchi eine Parabel über die BewohnerInnen dieser fragilen Idylle, die durch ein eher naiv anmutendes Campingplatz-Projekt gefährdet wird. In der zentralen zwanzigminütigen Konfrontation erteilen die versammelten LandbewohnerInnen den PR-Leuten aus Tokyo eine basisdemokratische Lektion in ökologischem Bewusstsein – wer je eine Schweizer Gemeindeversammlung erlebt hat, fühlt sich da zu Hause. Ab diesem Moment allerdings nimmt der Film zwei jener unerwarteten Wendungen, mit denen sich Hamaguchi jüngst in die Liga der internationalen Regiegötter hochgearbeitet hat. Entsprechend andächtig – und weitgehend frei von Deutungsbemühungen – haben Festivaljuries und -kritikerInnen das rätselhafte Ende abgenickt: Atmosphärisch, keine Frage, ein Meisterstück. Was es bedeutet, lässt sich höchstens erahnen. Unseren Interpretationsvorschlag finden Sie beim Bonusmaterial zu Evil Does Not Exist.

Andreas Furler

Galerieo

10.04.2024
Waidwund und wehrhaft

Die rätselhafte letzte Szene von «Evil Does Not Exist»: Ein Interpretationsvorschlag.

Von Andreas Furler

Es gehört zu den heutigen journalistischen Gepflogenheiten, dass man Texten wie diesen eine Spoiler-Warnung voranstellt: Achtung, wir verraten hier das Ende des Films. Denn – Achtung: Überraschung! – es lässt sich nicht vermeiden, dass man sagt, was da passiert, wenn man diskutieren will, was es bedeutet.

Vorweg resümierend dies: Die vier Protagonisten von Evil Does Not Exist sind der verwitwete ländliche Handlanger Takumi und seine achtjährige Tochter Hanna, sodann der Mann und die junge Frau aus Tokyo, die der lokalen Bevölkerung einer idyllischen Streusiedlung in den Wäldern ein ökologisch fragwürdiges Campingplatz-Projekt schmackhaft machen sollen. Die beiden PR-Leute befällt allerdings bald ihrerseits Zweifel am Projekt und an ihren Schönfärber-Jobs. Schon beim zweiten Besuch vor Ort, bei dem sie eigentlich Takumi als potenziellen Camping-Platzwart auf ihre Seite holen sollten, laufen sie zu den Provinzlern über. Taktgeber ist dabei Takahashi, der nach einer einzigen geglückten Spaltung eines Holzklotzes den naturwüchsigen Pionier in sich zu entdecken glaubt und nun selbst mit der Stelle des Platzwartes liebäugelt, dies, nachdem Takumi das Jobangebot unwirsch ausgeschlagen hat. Mit anderen Worten: Takahashis Idee einer Rückkehr zur Natur ist so naiv wie widersprüchlich. Er erhofft sich einen Platz in der ländlichen Gemeinschaft, indem er weiterhin dem ökologisch unsinnigen Projekt aus der Stadt zudient.

Zum besagten Finale: Es wird eingeleitet durch eine atmosphärisch meisterhafte Sequenz, in der Takumis Tochter Hanna, die auf dem Heimweg von der Schule jeweils durch die Wiesen und Wälder streift, vermisst wird und eine fieberhafte Suche nach dem Mädchen in der Dämmerung einsetzt. Im letzten Licht kommen Takumi und Takahashi schliesslich bei einer Lichtung an, wo sie Hanna reglos im Gras knien und auf eine Rehkuh mit Kitz blicken sehen. Eine Grossaufnahme zeigt, dass eines der Tiere angeschossen ist. Als Hanna ihre Mütze abnimmt und auf die Rehkuh zugeht, will Takahashi eingreifen – in einem früheren Moment hat er von Takumi gehört, dass die menschenscheue Fluchttiere mit Kitz oder waidwund zum Angriff übergehen können. Doch als Takahashi zu Hanna rennen will, setzt unvermutet die kleine Kaskade seltsamer Geschehnisse ein:

Takumi reisst Takahashi zu Boden und würgt ihn mit dem Arm um den Hals, bis dem Städter Schaum aus dem Mund läuft und seine Augen erstarren. Dann geht Takumi zur Tochter, die nun ihrerseits reglos im Gras liegt, während die Rehe verschwunden sind. Die Augen des Mädchens sind zu, aus ihrer Nase rinnt etwas Blut, wie zuvor aus dem Fell des Rehs. Takumi hebt das Mädchen hoch und trägt es von der Kamera weg Richtung Wald, bis sich die beiden im Restlicht nicht mehr von den Bäumen unterscheiden lassen. Da taumelt der tot geglaubte Takahashi in die starre Totale, stolpert, rappelt sich hoch und bricht endgültig zusammen. Die letzte Einstellung variiert die Eröffnungsszene: Wieder fährt die himmelwärts gerichtete Kamera den Baumkronen des Waldes entlang, diesmal bei Nacht und Mondschein, während man auf der Tonspur nicht mehr die elegische, mitunter leise bedrohliche Musik hört, die etliche Szenen begleitet hat, sondern ein schweres Atmen, das allmählich verstummt, bevor das Bild ganz schwarz wird.

Die Rehe und Takumis Rolle im Film sind in meinen Augen der Schlüssel zu den rätselhaften Geschehnissen und auch zum nie erklärten Filmtitel. In der Exposition hört Takumi einmal Schüsse einer fernen Jagd, später entdecken er und seine Tochter das Skelett eines verendeten Rehs, das laut Takumi angeschossen wurde. Im letzten Akt schliesslich fallen Schüsse schon in unmittelbarer Umgebung – die Bedrohung kommt näher.

Das Gleiche gilt für die Bedrohung der Natur durch das Campingplatz-Projekt, deren Sinnbild die Rehe und deren menschliche Stellvertreter Takumi und Hanna sind. Die beiden wissen mehr als alle anderen Figuren über die Natur, doch ist sich Takumi immer dessen bewusst, was er in der Infoveranstaltung zum Campingprojekt ausspricht: dass auch er (wie alle lokalen Siedler) ein Neuling und somit ein Eindringling in dieser Gegend ist.

Takumis Selbsteinschätzung entspricht dem gängigen Topos, dass der Mensch ein Neuling in der Naturgeschichte und vielleicht nur ein Irrläufer der Evolution ist. Der Städter Takashi möchte einer diese (relativen) Einheimischen werden, hat aber nichts begriffen vom fragilen Gleichgewicht, in das er mit seiner Präsenz eingreift, und tut partout das Falsche. Deshalb greift ihn Takumi in der Schlussszene quasi anwaltschaftlich an, wie ein waidwundes Reh, das sein Kitz verteidigt, und setzt ihn ausser Gefecht. Ob er ihn sogar tötet, bleibt offen und spielt keine Rolle. Denn: Mit Bosheit oder der viel beschworenen Rache hat es nichts zu tun, wenn der Mensch von der Natur, die er aus dem Gleichgewicht gebracht hat, eliminiert wird. Evil does not exist", es ist da keine böse Absicht im Spiel, es geschieht einfach. Die aus dem Tritt gebrachte Natur atmet nach dem Verschwinden der Menschen einen Moment lang schwer, dann wird es wieder ruhig.

Der Kunstgriff des Regisseurs Ryusuke Hamaguchi liegt darin, dass er diese Botschaft ohne Zeigefinger an sein Publikum bringt und stattdessen das Risiko eingeht, es mit einer parabelhaften Erzählweise vor Rätsel stellen und mit plötzlicher Drastik vor den Kopf zu stossen. Gut so, weil moralische Konzepte in diesem Zusammenhang nicht greifen: Es geht nicht darum, ob der Mensch gut oder schlecht ist, sondern ob er das Richtige tut, ob er klug handelt. Tut er es nicht, konstatiert «Evil Does Not Exist» knochentrocken, geht er unter, Punkt. Cut to Black.

Aus dieser Logik heraus hat auch die lange, nach gängigen Kriterien langweilige Eröffnungssequenz des Films ihren Sinn, während der man vier Minuten lang bloss den Bäumen beim Baumsein, dann geschlagene elf Minuten Takumi beim Holzhacken und Wasserschöpfen zusieht. Wenn Du Dich auf diesen Rhythmus nicht einlassen magst, signalisiert uns Hamaguchi auktorial, hast Du in diesem Film nicht verloren. Ob dies eine kluge Strategie ist, um möglichst viele Leute für seien moralinfreie Message zu gewinnen, sei dahingestellt. Auch Regiegötter sind eine Art Naturwesen. Man kann ihnen nichts vorschreiben, geschweige denn aufzwingen.

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Filmdateno

Originaltitel
Aku wa sonzai shinai
Synchrontitel
Le mal n'existe pas FR
Genre
Drama
Länge
106 Min.
Originalsprache
Japanisch
Bewertungen
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ØIhre Bewertung7.2/10
IMDB-User:
7.2 (1510)
Cinefile-User:
< 10 Stimmen
KritikerInnen:
7.3 (3) q

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Hitoshi OmikaTakumi
Ryo NishikawaHana
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